Achtsamkeit und positive Psychologie

Ein Anwendungsfeld der Achtsamkeitspraxis liegt in ihrer Verknüpfung mit der Positiven Psychologie.

Eine der Hauptsäulen der Positiven Psychologie ist das VIA-Modell der Charakterstärken. Die Idee zur Entwicklung dieses Modells entstand 1999 in einem Gespräch mit Martin Seligman und im Jahr 2000 wurde das “Values in Action Institute” ins Leben gerufen (VIA). Ein Team von Sozialwissenschaftler:innen, Vertreter:innen der Weltreligionen, Philosophie und Psychologie machten sich auf die Suche danach, was in verschiedenen Kulturen als „Stärke“ oder als „Wert“ gesehen wird. Bis zum Jahr 2004 wurden kulturübergreifende Tugenden und Charakterstärken herausgearbeitet. Seligmann sieht in diesem Anti-DSM einen Gegenpol zu defizitorientierten Sichtweisen auf Menschen.

  1. Weisheit und Wissen – Stärken, die den Erwerb und den Gebrauch von Wissen beinhalten
    • Kreativität: Neue und effektive Wege finden, Dinge zu tun
    • Neugier: Interesse am eigenen Erleben und der Umwelt
    • Urteilsvermögen (perspective): Dinge durchdenken und von allen Seiten betrachten, das große Ganze im Auge behalten, den Wald und die Bäume sehen
    • Liebe zum Lernen: Neue Fähigkeiten erlernen und Wissen aneignen
    • Weisheit: In der Lage sein, guten Rat zu geben
  2. Mut – Stärken, die dazu beitragen, innere und äußere Hindernisse zu überwinden, um Ziele zu verfolgen
    • Tapferkeit: Sich nicht Bedrohung oder Schmerz beugen, sich Herausforderungen stellen
    • Ausdauer: Zu Ende führen, was begonnen wurde, auch im Angesicht von Schwierigkeiten
    • Ehrlichkeit: Die Wahrheit sagen und aufrichtig und authentisch auftreten
    • Freudvolle Anstrengung: Der Welt mit Begeisterung und Energie begegnen
  3. Menschlichkeit – Zwischenmenschliche Stärken, die liebevollen menschlichen Austausch ermöglichen
    • Liebes- und Bindungsfähigkeit: Menschliche Nähe schätzen und herstellen können
    • Güte: Freundlich und großzügig sein, und Gutes Ttun
    • Soziale Intelligenz bzw. soziale Kompetenz: Sich der Beweggründe und Gefühle von sich selbst und anderen bewusst sein
  4. Gerechtigkeit – Stärken, die Gemeinwesen und Zusammenleben in Gruppen fördern
    • Gemeinschaftssinn und Fähigkeit zur Teamwork: Gut als Mitglied eines Teams arbeiten, Zugehörigkeit und Loyalität
    • Fairness: Alle Menschen nach dem Prinzip von Gleichheit und Gerechtigkeit behandeln
    • Führungsvermögen: Gruppenaktivitäten organisieren und ermöglichen
  5. Mäßigung – Stärken, die helfen, die „goldene Mitte“ zu finden und vor Übermaß und Übertreibung schützen
    • Verzeihen: Denen Vergeben, die einem Unrecht getan haben
    • Bescheidenheit und Demut: Das Erreichte für sich sprechen lassen
    • Besonnenheit: Innehalten vor Handlungen; nichts tun oder sagen, was man später bereuen könnte
    • Selbststeuerung: Regulieren was man tut und fühlt
  6. Transzendenz – Stärken, die Sinn stiften und ermöglichen, sich als Teil eines größeren Ganzen und mit diesem verbunden zu fühlen
    • Sinn für das Schöne und Besondere: Schönheit und Exzellenz in allen Lebensbereichen schätzen und anerkennen, Ehrfurcht und Staunen
    • Dankbarkeit: Gute Dinge zu schätzen wissen und Dank ausdrücken
    • Hoffnung und Zuversicht: Das Beste erwarten und sich dafür einsetzen
    • Humor: Lachen und Humor schätzen; andere Menschen gerne zum Lachen bringen, spielerische Leichtigkeit
    • Spiritualität, Glaube: Kohärente Überzeugungen über Sinn und Bedeutung des Lebens haben, die Haltung und Verhalten Richtung geben

Zwölf Gründe, Achtsamkeit und Charakterstärken zu kombinieren

In der Vergangenheit wurden Achtsamkeit und Stärken in Praxis und Forschung als getrennte Bereiche behandelt. Nach Ryan Niemiec (2019) sind beide als Quellen von Wohlbefinden untrennbar miteinander verbunden. Hier sind 12 Gründe, wie Achtsamkeit beim Üben Ihrer Stärken helfen kann und wie die verschiedenen Fähigkeiten und Stärken die Praxis der Achtsamkeit unterstützen können.

  1. Das Modell der sog. Charakterstärken bietet eine allgemein verständliche Sprache positiver Zustände, Eigenschaften und Fähigkeiten, die Positives definieren und ermöglichen, von denen sich viele als natürliche Folgen der Achtsamkeitspraxis entwicklen.
  2. Diese Fähigkeiten und Zustände bieten einen Fokus, der dabei hilft, mit lästigen Hindernissen und Barrieren umzugehen, wie z. B. dem Abschweifen der Gedanken, die bei Achtsamkeitsübungen haufig auftauchen.
  3. Achtsamkeit macht das positive Potenzial in jedem Menschen bewusster und bietet einen Weg, Stärken und Fähigkeiten zu erkunden und zu entwickeln.
  4. Achtsamkeit und die sog. Charakterstärken wirken in einer positiven Synergie, die einen positiven Kreislauf wechselseitiger Verstärkung fördern kann. Achtsames Bewusstsein fördert den Einsatz von Stärken, was wiederum die Achtsamkeit belebt. Diese Synergie kann die Grundlage erfolgreicher positiver Interventionen bilden.
  5. Achtsamkeit fördert das Gewahrsein und fördert Veränderungen, indem sie die Stärken des Individuum deutlicher sichtbar macht. Sie dient als Weg, sich selbst so zu sehen, wie man wirklich ist.
  6. Achtsamkeits- und sog. Charakterstärkungsübungen fördern die Fähigkeit, in verschiedenen Situationen angemessen und erfolgreich zu handeln. Das heißt, deren Integration kann die psychologische Flexibilität fördern und helfen, in Situationen Ausgeglichenheit und praktische Weisheit zu finden und ein Entwicklungs- und Wachstums-Mindset zu entwickeln.
  7. Achtsamkeit bietet einen Anker für das Üben von Stärken und gibt Orientierung, diese auch einzusetzen.
  8. Achtsamkeit motiviert dazu individuelle Stärken bewusster zu nutzen, was besonders relevant ist, da einige Untersuchungen ergeben haben, dass nur ein Drittel der Menschen ein klares Bewusstsein für ihre Stärken hat. Und für diejenigen, die sich dessen bewusst sind, besteht häufig das Problem einer “Stärkenblindheit” und der Annahme, dass die eigenen Stärken selbstverständlich seien, indem man sie als „gewöhnlich“ herunterspielt. Achtsamkeit kann ein nahezu idealer Ansatz sein, um diesem „Stärken und Fähigkeiten-für-selbstverständlich-nehmen“-Effekt entgegenzuwirken.
  9. Achtsamkeit bietet einen Weg für einen ausgewogenen Ausdruck der eigenen Stärken und Fähigkeiten und eine Möglichkeit, deren Entfaltung zu üben. Achtsamkeit kann dabei helfen, den Umgang mit Über- und Unterbeanspruchung von Fähigkeiten und Stärken zu verbessern.
  10. Achtsamkeit und die sog. Charakterstärken helfen, aus der „hedonistichen Tretmühle“ der schnellen Anpassung an gute oder schlechte Erfahrungen herauszukommen, indem sie dazu beitragen, die kleinen Freuden des Lebens zu schätzen.
  11. Achtsamkeit und das Modell der Stärlen bilden ein Gegengewicht zur allgegenwärtigen Tendenz, sich auf das zu konzentrieren, was falsch oder schlecht ist, und sich davon beeinflussen zu lassen.
  12. Achtsamkeit fördert gleichzeitig direkt und indirekt viele Stärken. Die meisten davon können nicht realisiert werden, ohne andere Stärken zu nutzen. Wie kann man beispielsweise üben, Dankbarkeit zu kultivieren, ohne die Stärken des Perspektivenwechsels (z. B. indem Sie beim Zählen Ihrer Segnungen Ihren Tag aus einem weiteren Blickwinkel betrachten) oder Mut (z. B. den Mut aufzubringen, jemandem einen Dankesbrief zu überbringen) einzusetzen? Jede Stärke enthält Elemente der anderen, und darüber hinaus erfordert jede Stärke den Einsatz anderer Stärken, um sie einzusetzen. Achtsamkeit, die sich auf das Kultivieren einer Stärke konzentriert, unterstützt automatisch bis zu einem gewissen Grad andere Stärken.

Niemiec (2020) fokussiert in einem Artikel (2020) auf das Zusammenwirken von Charakterstärken und ihre Synergien mit Spiritualität in Richtung Ganzheit. Schritte auf diesem Weg macht er anhand der Wahrnehmung und des Wertschätzens der Schönheit der Natur während einer Wanderung deutlich:

  1. Achtloser Gebrauch der “Wertschätzung von Schönheit”: Die Person achtet nicht auf ihre Umgebung oder nimmt die Schönheit um sich herum nicht wahr, sie verhält sich, als ob sie Scheuklappen tragen würde. „Ich bin draußen in der Natur.“
  2. Achtsamer Umgang mit der Wertschätzung der Schönheit: Die Person achtet auf ihren Körper und die Umgebung: „Ich sehe die grünen Bäume und genieße die Bewegung meines Körpers, wenn ich auf Steine trete und spüre, wie die Sonne meine linke Wange wärmt. Ich genieße die Schönheit des glitzernden Teichs und die Wellen im Wasser.“
  3. Spirituell geprägte achtsame Wertschätzung der Schönheit: Die Person achtet auf ihren Körper und ihre Umgebung und verbindet sie zu einem größeren Ganzen: „Ich sehe die Schönheit von allem Grün und das schimmernde Licht auf dem Teich und die umherfliegenden Vögel, und doch fühle ich so viel mehr. Ich bin mit all dem verbunden und mit etwas, das so viel größer ist als ich selbst. Das ist eine heilige Erfahrung. Ich halte die Schönheit fest und bewundere die Szene und fühle mich mit ihr verbunden. Ich atme damit. Ich spüre ein Gefühl der Lebendigkeit und der Verbundenheit mit allem.“

Quellen

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